Krebsmedizin in ist veraltet

Der folgende Artikel hat immer noch seine Gültigkeit, obwohl es viele neue Erkenntnisse gibt, werden Menschen mit Krebs mit Standardtherapien behandelt.

 

Von Claudia Ehrenstein, Berlin, erschienen in Die Welt, 20. März 2000

Früherkennung seit 20 Jahren unverändert – Tumorerkrankungen bald häufigste Todesursache
Fast jeder dritte Deutsche erkrankt in seinem Leben an Krebs. Je älter die Bevölkerung wird, desto häufiger treten bösartige Tumorerkrankungen auf. In zehn Jahren werden sie in Deutschland die häufigste Todesursache sein. „Darauf ist unser Gesundheitssystem nicht vorbereitet“, warnt Professor Lothar Weißbach, Chefarzt der Urologie am Berliner Urban-Krankenhaus und Präsident des 24. Deutschen Krebskongresses, der heute in Berlin beginnt.“Der Kongress soll etwas bewegen“, sagt Weißbach. Daher hat die Deutsche Krebsgesellschaft (DKG) als Veranstalter acht provokante Thesen zur Krebsmedizin formuliert.
Denn die Onkologie ist schon heute die teuerste Sparte der Medizin. Die Kosten werden sich in den nächsten Jahren verdreifachen. Weißbach: „Die Gesellschaft muss diskutieren, was sie sich in Zukunft leisten kann und will.“ So ist die Krebsfrüherkennung nach Ansicht der DKG in ihrer jetzigen Form zu teuer und erfüllt nicht ihrer Aufgabe. Entsprechende Vorsorgeprogramme wurden vor zwei Jahrzehnten eingeführt – und seither nicht verändert.
„Die Untersuchungen müssen dringend dem aktuellen Forschungsstand angepasst werden“, fordert Weißbach. So müssten zum Beispiel Bluttests auf Prostatakrebs eingeführt werden. Beim Brustkrebs empfiehlt die DKG ein „intelligentes Screening“, dass sich auf zuvor definierte Risikogruppen konzentriert.Schon bei der Früherkennung müssten die verschiedenen Fachärzte eng zusammenarbeiten. Gerade bei der Interdisziplinarität aber sieht Weißbach eines der größten Defizite der deutschen Krebsmedizin. In den USA erstellten mehrere Fachärzte innerhalb von 24 Stunden eine Diagnose und legten auch die Therapie fest. In Deutschland werden Patienten von Institution zu Institution geschickt. Diagnose und Therapie, so Weißbach, müssten sich die Betroffenen oft „hart erarbeiten“.Die mangelnde interdisziplinäre Zusammenarbeit senkt die Heilungschancen der Patienten, lautet denn auch eine der Thesen.
In diesem Bereich hätten die 43 Tumorzentren in Deutschland zum größten Teil versagt. „Das sind bewegungsarme Tanker, die überkommenen Strukturen verhaftet sind“, meint Weißbach. Oft lägen die Probleme im menschlichen Bereich. So fördere das Medizinstudium strebsame Einzelgänger. „Die können dann gut lernen, aber oft nicht im Team arbeiten.“Aber gerade von interdisziplinärer Teamarbeit und der Kombination von Therapien profitieren die Patienten. So hat sich gezeigt, dass Hormontherapie in Verbindung mit Bestrahlung bei bestimmten Formen des Prostatakrebses bessere Ergebnisse bringt als eine Operation.
Die Gentherapie dagegen geht gerade erst in die ersten klinischen Prüfungen. Viel zu früh seien übertriebene Hoffnungen geweckt worden, meint Weißbach. Von 30 Patienten in seiner Sprechstunde fragten inzwischen mindestens fünf bis zehn nach einer Gentherapie.Gleichzeitig beklagt die DKG in ihren Thesen, dass sich Ärzte und Patienten in Deutschland viel zu wenig an der Erprobung innovativer Tumortherapien beteiligen. In der Grundlagenforschung sei Deutschland „exzellent“ und müsse den weltweiten Vergleich nicht scheuen, versichert Weißbach. Die klinische Forschung aber falle schon im europäischen Vergleich deutlich zurück. Die gesetzlichen Vorgaben für klinische Studien sind in Deutschland sehr streng. Der Patient ist gut geschützt. Das sei im Prinzip auch gut so, meint Weißbach, führe aber zu einer „Studienmüdigkeit“ der Ärzte. Außerdem fühlten sich deutsche Patienten schnell als Versuchskaninchen.
Sehr studienfreudige Länder dagegen sind Holland, Frankreich und Italien. Das sind auch die Standorte für neue Firmen der Biotechnologie. Weißbach: „Die gehen dorthin, wo ihre Produkte geprüft werden können.“Die Zahl der Patienten in klinischen Studien soll denn auch künftig ein Kriterium sein, um die Qualität einer Tumorklinik zu bewerten. Die DKG hat bereits eine entsprechende ! Zertifizierungskommission einberufen. Auch der Ausbildungsstand des medizinischen Personals und die Ausrüstung mit technischen Geräten sollen ein Merkmal zur Qualitätskontrolle sein.
Künftig darf nicht mehr jeder Arzt machen können, was er will, fordert Weißbach. Aus dem Ende der Beliebigkeit, einer Ergebniskontrolle und der interdisziplinären Zusammenarbeit ergebe sich dann eine neue Krebsmedizin. Sie könnte beispielhaft zeigen, wie sich das Gesundheitssystem in Deutschland reformieren ließe. „Vieles davon ist zwar Ländersache“, sagt Weißbach. „Aber auch die Bundespolitik muss sich einmischen.“
Die acht Thesen zur Krebsmedizin

1. In der jetzigen Form erfüllt die Krebsfrüherkennung nicht unsere Ansprüche und ist teuer.

2. Die in Deutschland unzureichende interdisziplinäre Zusammenarbeit zwischen den Ärzten senkt die Heilungschancen der Patienten.

3. In der jetzigen Form sind die Tumorzentren ohne Zukunft.

4. Deutsche Ärzte und Patienten beteiligen sich nicht ausreichend an innovativen Tumorbehandlungen.

5. Die Gentherapie ist zur Zeit nur eine Hoffnung für den Patienten.

6. Interdisziplinäre multimodale Therapie verbessert die Prognose und die Lebensqualität Tumorpatienten.

7. Die Deutsche Krebsgesellschaft, die Deutsche Krebshilfe und die Krankenkassen bekennen sich zu einer sachgerechten Finanzierung der klinischen Forschung in Deutschland – Stichwort Clearing-Haus.

8. Die Politik vermittelt nicht zwischen den Ansprüchen der Gesellschaft und den Möglichkeiten der Medizin.

(c) Die WELT online http://www.welt.de

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